Millys Entwicklungsstand

Motorik

Milly kann nicht stehen, nicht laufen, nicht krabbeln, nicht robben. Sie kann frei sitzen, aber sich nicht mit den Armen abstützen. Sie kann sich nicht von selber hinsetzen oder aus dem Sitz in eine andere Position begeben, ist also ständig auf Hilfe angewiesen. Sie dreht sich auf die Seite, würde aber nur schwer in die Bauchlage kommen. Noch vor einem Jahr konnte sie eine Zeitlang Gewicht übernehmen und mit Hilfe auch ein paar Schritte laufen. Sie hat leider sehr an Gewicht zugelegt, es wird immer schwerer für sie, sich zu bewegen. Dennoch bewegt sich Milly sehr gerne.

Trotz ihrer Muskelschwäche ist sie keineswegs schwach. Sie kann viel Kraft generieren wenn es sein muss und sich in Windeseile hin- und herdrehen. Ihr hohes Abwehrverhalten muss bei der Pflege immer berücksichtigt werden. Den rechten Arm kann sie besser einsetzen als den linken, da er schwächer ist. Das hat sich in den letzten Monaten sehr gebessert und wir sehen viel öfter, dass sie auch die linke Hand beim Greifen nutzt. Die Feinmotorik ist sehr eingeschränkt. Mit der rechten Hand zieht sie gerne an unseren Haaren und kneift und kratzt ins Gesicht. Übrigens nicht immer aus Bosheit. Das Streicheln empfindet sie wahrscheinlich als zu schwach, also ziept sie um Zuneigung zu vermitteln. Bei der Körperhygiene ist bei ihr aber Schluss mit lustig. Sie wehrt sich dann mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln und kneift und ziept mit voller Kraft. Ich kann ihr oft gar nicht böse darüber sein. Unter erzieherischen Gesichtspunkten sollte ich intervenieren, meistens muss ich aber lachen. Ich habe noch eine Milly in Erinnerung, die kaum auf andere reagierte, ihren Arm nicht hoch heben konnte, geschweige denn bis an meine Haare kam um daran zu ziepen. Selbst wenn, hätte sie dazu die Kraft nicht gehabt. Es gibt so viele Kleinigkeiten, über die ich sehr glücklich bin, weil Milly sie jetzt wie selbstverständlich ausführt.

Milly sitzt natürlich sehr viel. Das hat zur Folge, dass sie die Beine ständig anwinkelt, die Beinmuskulatur sich also verkürzt und das Becken belastet wird. Wir legen sie daher immer mal wieder hin, damit sie in eine andere und bequemere Körperhaltung kommen kann. Wer von uns könnte und wollte schon den ganzen Tag sitzen?! Im Bett ist sie dann sehr aktiv, spielt mit ihren Tieren, macht mit ihren Rasseln Musik oder babbelt und „singt“. Wir sind aber so froh, dass sie sitzen kann. Das Sitzen hat ihr viel mehr Teilhabe ermöglicht und ist für viele schwerbehinderte Kinder keine Selbstverständlichkeit.

Kognitive Fähigkeiten

Milly ist auch geistig behindert. Welches Entwicklungsalter sie aktuell hat, kann ich nicht sagen. Eine Sonderpädagogikstudentin füllte mal einen Fragenkatalog mit mir aus. Sie sollte für die Uni eine Art Gutachten erstellen und ich sollte ihr sagen, in welchen Lebensbereichen Milly was kann. Oft erreichte sie dabei Werte für Kinder im Alter von 18 Monaten, manchmal mehr, manchmal weniger. Das ist nun schon eine Weile her, aber ihr Entwicklungsstand könnte schon in diesem Bereich liegen.

Dank der Medikamente kann Milly viel mehr wahrnehmen und begann Dinge zu verstehen. Wieviel, kann man nicht sagen. Es gibt Situationen, da denke ich, sie versteht alles. Sie bekommt viel mit und leider werden Kinder mit geistiger Behinderung, die sich zudem nicht verständigen können, sehr unterschätzt. Milly kann Tiere oder Dinge im Haushalt auseinanderhalten. Natürlich ist es schwer für sie, sich ihre Umwelt zu erschließen und wie ein gesundes Kind, Dinge zu greifen oder hinzurennen und auszuprobieren. Wir müssen sie zum Lichtschalter fahren und ihr zeigen, dass etwas passiert, wenn man draufdrückt. Das Erschließen von Kausalzusammenhängen ist daher aufwendig und muss ständig wiederholt werden. Manchmal bin ich aber erstaunt, wie schnell sie etwas versteht und umsetzen kann. Sie ist aber auch in der Lage uns zu veräppeln, versteht, wenn uns Missgeschicke passieren und lacht uns dann höhnisch aus. Berücksichtigen muss man, dass sie manche Dinge nicht können will. Sie hat eine Rundumversorgung und wir können oft nicht einschätzen, was man ihr zumuten kann. Dann schonen wir sie aus Gewohnheit, wo mehr Fordern angesagt wäre. In den nächsten Jahren wird daher immer mehr die Förderung der Selbständigkeit im Mittelpunkt stehen.

Milly hat leider auch keine Gefahreneinsicht. Wenn sie sich im Bett beim Waschen hin und her wälzt, beachtet sie nicht, dass sie in der Hitze des Gefechtes gleich herausfallen könnte. Wenn sie im Rollstuhl sitzt, müssen wir darauf achten, dass sie nicht in der Nähe einer Tischkante etc. steht. Ist sie aufgeregt und ungeduldig, wirft sie sich mit Wucht nach vorne und hat sich dabei schon mal schlimm den Kopf gestoßen. Wir sind also gefordert, alles um sie herum im Blick zu haben und immer einige Schritte im Voraus zu denken.

Ground Control to Milly – Sprache und Kommunikation

Wenn man den Wert eines Menschen an seinen Kosenamen messen würde, dann würde Milly ganz hoch im Kurs liegen. Schon vor ihrer Geburt nannte ich sie Milly, Millymaus und Schneckchen. Dass sie wirklich eines war, wusste ich da noch nicht. Neben Millymäuschen (Oma), Mausebär (Tante Ela), Mausibärchen (Mama), Schneckchenmaus (Mama), Emiljuschka (Tante Susi), Millychen (Tante Corina), Emilchen (Tante Ela), Zuckerschneckchen (Mama), Knutschbäckchen (Tante Ela) … kommen noch einige andere liebevolle Bezeichnungen hinzu, die das „millyozentrische Weltbild“ der Familie unterstreichen.

Aber es gibt auch andere Bezeichnungen: MILLZILLA (Papa; eine Zusammensetzung aus Milly und Godzilla), Motzilla (Papa; eine Zusammensetzung aus Motzen und Godzilla), Millynator (Mama und Papa; ein Terminator nur in blond mit Pausbäckchen) oder Miss Motzi, Drama Queen, Quengelluise, Meckerlise, olle Miesmuschel (Mama; ist sicher alles selbsterklärend).

Milly kann zwar nicht sprechen, hat aber viel zu sagen! Sie lautiert, sagt auch mal „Mama“, „Papa“ und „Oma“. Wenn sie aber etwas will oder ihr etwas nicht passt, hören wir meistens ein mehr oder weniger energisches „ÄHHH“. Das ist oft sehr anstrengend und ihr Papa meint dann resignierend: Sie sagt’s mal wieder in Ä-Dur. Wir sind gezwungen, unser Kind wirklich zu verstehen, d. h. uns in Milly hineinzuversetzen und zu erspüren, was sie uns sagen möchte. Wenn mir irgendetwas fehlt, dann dass Milly sprechen kann. Gerade wenn wir sehen, dass etwas nicht stimmt, versetzt es mich schnell in Panik. Ich habe Angst, sie könnte Schmerzen haben, und ich kann ihr nicht helfen. Wir hatten schon Erlebnisse, wo Milly furchtbar quengelte und dann weinte, schrie und gar nicht mehr zu beruhigen war. Meine Mutter musste aus dem Zimmer, weil sie es nicht mehr aushielt. Meine Schwester war vor Schrecken kreidebleich, wollte den Notarzt rufen. Wir probierten alles: sitzen, liegen, spielen, lesen, singen, neue Windel, essen, trinken … Des Rätsels Lösung: Milly wollte einen Bauer Jogurt. Alle Aufregung also umsonst. Ihre berühmten „Ähhs“ sind manchmal psychisch sehr belastend und setzen unter Druck. Wir müssen ganz bewusst damit umgehen, denn ein starkes Millzilla-„Ähh“ kommt bei uns wie ein Vorwurf an. Aber sie hat nun mal keine andere Möglichkeit sich auszudrücken.

Im Kindergarten wird mit Unterstützter Kommunikation gearbeitet. Dazu bekam Milly zwei „step by steps“ bewilligt, kleine Geräte mit großen und leicht zu drückenden Tasten. Sie lernt damit zu kommunizieren. Zuerst musste sie lernen, dass sie eine Reaktion auslösen kann. Mittlerweile, weiß sie, dass sie draufdrücken muss, wenn sie z. B. noch mehr essen will. Dieses Vorgehen ist sehr mühsam. Einfach Bilder zeigen bringt nichts, da sie nicht wie ein gesundes Kind wahrnimmt. Sie muss nicht nur das Wort akustisch verstehen, sondern auch den Wortinhalt begreifen können. Die kognitiven Fähigkeiten spielen hier natürlich mit hinein. Mitunter werden Gebärden eingesetzt, aber auch das ist leichter gesagt als getan. Am einfachsten ist es, wenn Milly etwas nicht will. Sie wendet dann den Kopf ab, nimmt den Gegenstand und wirft ihn weg oder wehrt mit dem Arm ab. Manchmal schüttelt sie aber auch den Kopf. Bei Zustimmung gibt sie schon mal ein frohjauchzendes nach Erleichterung klingendes Geräusch von sich, das in etwa so klingt wie: Oh Mann, na endlich, die haben´s gerafft! Eine Gebärde, die sie bereits früh eingesetzt hat, ist ihre Art zu zeigen, dass sie müde ist. Dann hält sie ihren Unterarm – gestützt mit der anderen Hand – vor ihre geschlossenen Augen.

Milly zeigt nicht mit dem Finger auf eine Sache, sondern mit den Augen. Als ich sie einmal versuchsweise fragte, wo im Buch der Biber ist, schaute sie nur ins Buch. Ich fragte immer wieder und sie wurde ungeduldig und stupste energisch mit der Nase auf den Biber. Ich war ganz verblüfft, mir war nicht klar, dass sie die Tiere wirklich auseinander halten und auch darauf zeigen konnte. Milly kommuniziert also mit vollem Körpereinsatz und es ist eine Herausforderung, sich in sie einzufühlen und versuchen zu kommunizieren. Wenn ein Kind nur „ja“ oder „nein“ sagen kann oder nur mit dem Kopf schütteln oder nicken kann: allein das ist der pure Luxus!

Ich bin auch sehr froh, dass Milly jammern und weinen kann, um auszudrücken, dass sie leidet oder etwas nicht stimmt. Das ist leider keine Selbstverständlichkeit.

Interaktion/Spielen

Milly ist ein sehr fröhliches und aufgeschlossenes Mädchen, mit dem man Pferde stehlen kann. Wir können eigentlich überall mit ihr hin und sie lernt gerne neue Leute kennen. In letzter Zeit müssen wir aber schon aufpassen, dass wir sie mit neuen Situationen nicht überfordern. Sie nimmt mehr wahr und muss diese Reize natürlich erstmal verarbeiten.

Milly spielt gerne, wie jedes gesunde Kind auch. Sie hat aber nicht die gleichen Möglichkeiten, deshalb kommen 99% aller handelsüblichen Spielzeuge nicht für sie infrage. Entweder könnte sie es motorisch nutzen, aber versteht es kognitiv nicht, oder umgekehrt oder beides. Das stellt Freunde und Familie vor große Herausforderungen wenn es darum geht, ihr etwas zu schenken.

Die Muskelschwäche könnte dazu führen, dass sie mit weichen Materialien nicht viel anfangen kann bzw. sie nicht wie ein gesunder Mensch wahrnimmt. Daher spielt sie kaum mit Plüschtieren. Sie hat zwar einige Tierchen mit denen sie auch im Bett hantiert. Aber ihre Favoriten sind es nicht. Milly spielt gerne mit festen Materialien, so z.B. mit Bauklötzen oder großen Puzzleteilen jeder Art. Die Teile dürfen nicht zu klein sein. Sie schaut sie sich gerne an, wendet sie und prüft das Material, die Farbe, die Form.

Zurzeit lernt Milly mit dem Steckring zu arbeiten. Motorisch ist es ihr mittlerweile einigermaßen gut möglich einen Ring auf den Steckring zu stecken. Ist man feinmotorisch eingeschränkt, ist es ein schwieriges Unterfangen. Aber das ständige Üben fördert auch ihre kognitiven Fähigkeiten. Großen Spaß hat sie daran aber noch nicht. Türme aufzubauen ist daher auch nicht ihr Ding, sie umzuwerfen umso mehr.

Auf einem herkömmlichen Spielplatz kann Milly nicht spielen. Rutschen, Schaukeln, Klettern, Wippen ist ihr nicht möglich. Sind wir draußen unterwegs, müssen wir schon ca. 30 min laufen, um zu einem Spielplatz mit einer Nestschaukel zu gelangen. Milly schaukelt für ihr Leben gerne und kann sich in einer Nestschaukel total entspannen. Es gibt noch andere Schaukeln für körperbehinderte Kinder, die muss man aber schon suchen. Inklusive Spielplätze sind in Deutschland leider Mangelware. Dabei würden diese Schaukeln auch gesunde Kinder mit viel Freude und Spaß nutzen können.

Im Kindergarten kann Milly ihre kreative Ader ausleben. Sie malt dort mit Fingerfarben, bastelt oder knetet. Das macht ihr sehr viel Spaß und fördert natürlich auch ihre motorische und kognitive Entwicklung.

Activityspielzeug mit Tasten zum draufdrücken kann sie oft nicht bedienen, da die linke Hand zum Festhalten nötig wäre und sie nicht genug Kraft im linken Arm hat. Es gibt aber einige Ausnahmen, so z.B. Millys Zapfsäule, mit der sie so gerne spielt. Die gibt es im Handel leider nicht mehr, wir mussten eine bei ebay kaufen, weil ihre alte Zapfsäule schon den Geist aufgibt. Was so toll ist an der? Sie ist nicht zu lang und nicht zu hoch, Milly kann sie gut mit einer Hand nehmen. Sie hat große Tasten, zum Drücken ist keine perfekte Feinmotorik erforderlich. Sie blinkt und spielt mehrere tolle Melodien. Und das nicht nur ein paar Sekunden, sondern ein bis zwei Minuten.

Milly ist der totale Bücherwurm. Schon vor ihrer Geburt hatte ich eine ansehnliche kleine Bibliothek für sie eingerichtet. Für mich als bibliophile Mama war es ganz furchtbar, dass ich ihr so lange nichts vorlesen konnte. Nach der Medikamenteneinstellung änderte sich das. Seit zwei bis drei Jahren hat Milly großen Spaß an Büchern. Erst schaute sie gerne rein, eine Zeitlang wollte sie nur umblättern, da ihr das nun motorisch möglich war. Wir kauften daher vorwiegend Pappbilderbücher, da sie mit dünnen Seiten auch heute noch Schwierigkeiten hat. Sie liebt mittlerweile nicht nur die bunten Bilder, sondern auch die Geschichten, vor allem wenn sie sich reimen. Bei manchen Zeilen lacht sie immer wieder. Ob sie sie versteht, können wir nicht sagen. Zu lang dürfen die Inhalte aber nicht sein, dann lässt ihre Konzentrationsfähigkeit nach.

Thank You for the Music

Musik ist Millys ganz große Leidenschaft! Kleine handliche Musikinstrumente aller Art sind genau das Richtige für sie, denn Milly hat den Rhythmus im Blut. Sie kann den Takt eines Liedes gut mitklatschen und wenn man sie ablenken muss, dann am besten mit einem Liedchen auf den Lippen. Milly fordert ihre Lieder konsequent ein. Sie stupst dann mit ihrer Hand gegen unseren Mund. Das bedeutet: Jetzt sing mal! Wenn ihr das Lied nicht passt, gibt´s gleich wieder was auf den Mund. Während des Abendbrots bleibt schon mal ihr eigener Mund demonstrativ geschlossen und sie weigert sich ihn zu öffnen und zu essen bis ihre Music Box (Mama) ein Liedchen anstimmt. Dabei mag sie es lieber, wenn man ihr vorsingt, als wenn im Hintergrund z. B. eine CD laufen würde. Milly “singt” natürlich auch selber. Wenn sie im Bett liegt und mit ihren Rasseln spielt, hören wir sie hin und wieder übers Babyphone eine Melodie trällern. Ich frage mich dann, welches Lied sie wohl gerade singt.

Milly zupft auch gerne die Saiten der Gitarre ihrer Ergotherapeutin. Und wenn Markus ihr auf der Gitarre vorspielt, ist sie sein größter Fan. Es ist schade, dass Milly niemals ein eigenes Instrument spielen wird. Für welches sie sich wohl entscheiden würde?

Was die Stilrichtungen betrifft, ist Milly ziemlich offen. Sie mag Rock, Pop, Techno, Schlager, Klassik und natürlich Kinderlieder. Sind wir im Auto unterwegs, hat sie großen Spaß wenn wir eine CD einwerfen. Für die langen Fahrten in den Urlaub brauchten wir im letzten Jahr ein abwechslungsreiches Musikprogramm. Markus und ich suchten im Internet nach Liedern, die sie noch nicht kannte und stellten ihr eine CD („Millys Mucke“) vor allem mit TV-Lied-Klassikern wie „Die Biene Maja“, „Das Lied der Schlümpfe“, „Heidi“, „Pippi Langstrumpf“ u.s.w. zusammen. Die CD findet nicht nur Milly richtig toll. Auch alle „großen Kinder” an Bord singen immer begeistert mit.

Lieder und Melodien sind aber auch wichtig, um Milly zu beruhigen oder abzulenken. Musik hat also einen ganz wichtigen Stellenwert in ihrem Leben. Wir sagen immer scherzhaft, dass wir sie später auf´ s Konservatorium schicken, falls es bis dahin eine Einrichtung mit Inklusionsmöglichkeit gibt.

Essen/Trinken

Milly ist eine gute Esserin. Seit sie feste Kost zu sich nimmt, mussten wir auf weiche Nahrungsmittel achten. Mittlerweile tritt das immer mehr in den Hintergrund. Zurzeit lernt sie, aus einem Becher zu trinken. Sie trinkt vorwiegend noch aus einer Flasche mit Sauger, das aber selbständig. Beim Trinken aus dem Becher verschluckt sie sich oft. Daher versuchen wir und ihre Ergotherapeutin, verdünnte Säfte mit Johannisbrotkernmehl anzudicken und so das Trinken aus dem Becher zu üben.

Milly kann von Brot abbeißen, wenn ich es ihr reiche. Selber nehmen könnte sie es auch. Meistens würde sie es aber hinwerfen. Daher reichen wir ihr noch das Essen. Oft schneide ich das Brot in Stücke, spieße es auf die Gabel auf und lege sie ihr hin. Sie kann sie schon selber nehmen und die Gabel danach wieder ablegen (anstatt sie wie früher durch den Raum zu werfen). Im Kindergarten wird sie oft von der Ergotherapeutin beim Essen betreut. Milly muss Vorgänge sehr oft wiederholen, bis sie sie verinnerlicht hat.

Seit ca. einem Jahr bereitet uns Millys Gewichtszunahme große Sorgen. Ich machte mir Vorwürfe, vielleicht isst sie nicht gesund genug. Aber es gibt keine süßen Getränke, nur Wasser und Fencheltee. Milly nascht rein gar nichts. Wir versuchten Kohlenhydrate wo es nur geht zu vermeiden, die Portionen zu begrenzen und viel Obst und Gemüse zu geben. Zum Glück isst Milly sehr gern Gemüse. Sie muss aber auch lernen langsam zu essen. Wir denken, dass bestimmte Stoffwechselprozesse nicht so funktionieren, wie sie sollten. Dann die fehlende Bewegung. Es könnte auch durchaus möglich sein, dass bei ihr das Hungerfühl aufgrund der verzögerten Reizweiterleitung verspätet ankommt. Wieviel die Medikamente dazu beitragen, ist ebenfalls nicht klar.

Als wir uns nach der Diagnosebesprechung bei unserer BPAN-Facebookgruppe anmeldeten, staunten wir nicht schlecht: sehr viele betroffene Mädchen waren auch so kleine Pummelchen wie Milly. Das Gewichtsproblem ist wohl krankheitsspezifisch, zumindest für die Kinder, die sich wie Milly nicht bewegen können. Manche Kinder sind ja weniger schlimm betroffen. Es beruhigte uns zwar zu wissen, dass wir nichts falsch gemacht haben. Dennoch stellt sich die Frage, was Milly überhaupt essen darf. Ich gebe ihr seit Kurzem viel Rohkost mit, da sie Rohkost mittlerweile gut kauen kann. Im Kindergarten achten Millys Erzieherin und Ergotherapeutin zusätzlich darauf, was sie zu sich nimmt.

Ich bin trotzdem froh, dass Milly überhaupt feste Kost essen kann. Natürlich bringt das Nachteile hinsichtlich des Gewichts mit sich. Aber wir haben auch Kleinkinder mit Sondennahrung gesehen bzw. Kinder, die sich in ihrem Alter noch von Brei ernähren müssen. Dass ihr wenigstens in diesem Punkt eine fast altersgerechte Entwicklung möglich ist, macht uns sehr glücklich.

Die Medis

Milly bekommt morgens und abends jeweils zwei Antiepileptika in Form von Säften verabreicht. Sie verträgt sie gut, obwohl wir denken, dass sie durch die Medikamente oft müde wird. Erst die Medikamente haben Milly den Entwicklungsstand ermöglicht, auf dem sie heute ist. Warum ich die Medis hier erwähne, hat aber einen anderen Grund.

Einem geistig schwerbehinderten Kind kann man nicht mal einfach so Medikamente geben. Am Anfang war die Medikamentengabe sehr problematisch. Milly musste die Medis nehmen, um sich entwickeln zu können, wollte aber nicht. Zumal das erste Medikament, Keppra, selbst mit sämtlichen Zusätzen furchtbar schmeckt. Man schmeckt es einfach aus allem heraus. Milly weigerte sich, weinte, schrie, übergab sich. Hatten wir ein Medi endlich drin, erbrach sie spätestens beim zweiten und alles war draußen. Wir waren verzweifelt und hatten erst nach langem Experimentieren eine Lösung gefunden. Wir geben den ersten Saft mit Fruchtmus und den zweiten mit etwas Fruchtmus in Jogurt. Mit dieser Kombination nimmt sie die Medis nun regelmäßig.

Es gibt dennoch immer mal wieder Phasen, in denen sie sich ein bis zwei Wochen lang weigert, die Medis zu nehmen. Das kommt z. B. bei Krankheit und Unwohlsein vor. Wir dachten auch schon mal über eine Medikamentenumstellung nach. Aber Medikamente umzustellen, ist enorm aufwendig, und alle Epilepsiemedikamente haben Nebenwirkungen. Bei Milly war es zu Beginn z. B. Verstopfung. Ob das neue Medikament letztlich wirkt, müsste ja auch noch überprüft werden. Milly müsste erneut etliche Schlafentzugs-EEGs über sich ergehen lassen. Das wollten wir nicht, und zum Glück nahm sie die Medis nach jeder schwierigen Periode wieder regelmäßig. Milly soll endlich eine ruhige Kindheit haben und nur wo unbedingt nötig „gepeinigt“ werden. Alle halbe Jahr gibt es ein Kontroll-EEG und das reicht uns völlig aus.

Aber flott! – Ein Königreich für mehr Geduld

Geduld ist leider so gar nicht Millys Stärke. Das kann vor allem unterwegs nervenaufreibend sein. Wollen wir in einem Restaurant essen, muss die Bedienung erstmal in aller Eile Brot zur Überbrückung bringen, und zwar SOFORT und ohne schuldhaftes Zögern! Milly sieht die Gerichte und will sofort etwas essen. Deshalb geht manchmal einer von uns mit ihr spazieren, während der andere die Bestellung aufgibt. Sie kann sich so in Rage brüllen und schreien, dass man sie nur schwer beruhigen und sie letztlich nichts mehr essen kann. In Arztpraxen und Kliniken sind wir angespannt, da die Wartezeiten oft so lang sind und wir sehen müssen, wie wir Milly beschäftigen. Sie kann nicht wie ein gesundes Kind spielen, ist in einer neuen Umgebung auch zu aufgregt um zu spielen. Gut zureden bringt nichts. Oft gehen wir mit ihr durch die Flure spazieren. Aufregen darf sie sich nicht, denn dann sind Untersuchungen gar nicht mehr möglich oder nicht aussagekräftig, wie z. B. Hörtests. Ich weise bei der Anmeldung immer auf die Problematik hin und sage ganz direkt, dass man damit rechnen muss, dass die Kleine alles zusammen brüllt. Ich wünsche mir, dass auf die Bedürfnisse schwerbehinderter Kinder mehr Rücksicht genommen werden würde und sie bevorzugt behandelt würden. Das könnte Ärzten, Therapeuten, Milly, uns und nicht zuletzt auch allen anderen Wartenden viel Stress ersparen. Es ist eine permanente Übung, sich selbst nicht unter Druck zu setzen, wenn Milly ungeduldig ist und quengelt. Mit Milly Geduld zu „trainieren“ ist fast unmöglich. Wir reden dann beruhigend auf sie ein, singen und versuchen sie abzulenken.

Und nein, es hat auch nichts mit Erziehung zu tun. Dem Quengeln versuchen wir erzieherisch zu begegnen, indem wir Milly schon mal auf den Flur stellen und sie erst wieder an den Tisch holen, wenn sie ruhig ist. Das setzt aber voraus, dass wir uns sicher sind, dass das Quengeln keinen berechtigten Grund hat. Bei einem gesunden Kind kein Problem. Das kann den Grund irgendwann von ganz alleine mitteilen. Wir können Milly aber nicht fragen und sie kann sich leider nicht anders mitteilen. Was würden Sie tun, wenn sich ihr ganzer Wortschatz nur auf ein „ähhh“ erstreckt, sie etwas mitteilen wollen, Sie aber einfach keiner versteht? Richtig, Sie werden wütend und teilen das im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit. Sie könnten aber wenigstens noch mit dem Finger auf etwas zeigen, Gebärden verwenden, etwas aufschreiben. Milly kann das nicht. Milly ruhig und ausgeglichen zu halten, ist oft nichts für Weicheier.

Knuddeliduddel

Im Rehakids-Forum erscheint unter jedem Beitrag eine Signatur. In meiner Signatur stehen u.a. Millys Alter und Diagnosen. Als letzte führe ich auf: ein ausgeprägtes KKKQS (Knutsch-, Kuschel-, Knuddel- und Quengeleisyndrom). Ich habe zwar kein gesundes Kind, aber einen großen Herzenswunsch hat mir das Leben doch erfüllt: Ich habe eine richtige süße Knuddelmaus. Und es kuschelt sich soooo schön mit Milly. Wir nennen das immer „Knuddeliduddel“. Schmusen konnten wir von Anfang an mit ihr. Aber erst nach der Medikamenteneinstellung war es ihr möglich, uns als Eltern richtig wahrzunehmen und ihre Kuscheleinheiten auch einzufordern. Irgendwann streckte sie ihre Arme nach uns aus und wollte, dass wir kommen und schmusen. Beim Essen am Tisch sitzen Markus und ich rechts und links von Milly, Milly im Therapiestuhl am Kopfende. Wenn sie knuddeln will, himmelt sie uns an, streckt die Arme nach einem von uns aus und dann fährt der Therapiestuhl wie ein Pingpongball immer von rechts nach links, je nachdem, von wem Milly sich ihre Schmuseeinheiten abholen möchte. In letzter Zeit packt sie allerdings die Gelegenheit buchstäblich beim Schopfe, um Papa am Ohr oder Mama an den Haaren zu ziehen. Die Fähigkeit, zu uns und anderen eine sehr innige Beziehung aufzubauen, ist wohl ihre größte Stärke.

Schlafen

Milly hatte nach der Medikamenteneinstellung schlimme Durchschlafstörungen. Das besserte sich aber wieder. Sie schlief monatelang problemlos ein und durch. Es gab aber immer mal wieder Phasen von einigen Tagen und Wochen, in denen sie nachts wach war. Die letzte langwierige Wachphase war von Herbst 2016 bis Anfang 2017. Fast täglich wurde Milly mitten in der Nacht wach. Da Markus den Schlaf braucht, um für die Arbeit fit zu sein, wird Milly in der Nacht von mir betreut. Ich habe vier Kategorien für mich erstellt, wie schlimm eine Nacht werden kann:

  1. Milly ist wach, aber will nur im Bett spielen. Das kann 30 – 60 min dauern, dann schläft sie wieder ein. Ich kann liegen bleiben und dösen bis sie schläft. Mitunter muss ich ihr aber das Licht anmachen.
  2. Milly will nicht mehr im Bett liegen, ich muss sie aus dem Bett holen. Sie spielt dann hellwach und hoch konzentriert ca. 30 – 45 min auf ihrer Matte im Wohnzimmer.
  3. Milly hat nun auch auf der Matte genug, ist aber noch nicht müde. Ich hole sie auf das Sofa und lese ihr vor. Nach weiteren 15 – 30 min wird sie müde.
  4. Wenn ich Glück habe, kann ich sie ins Bett bringen und sie schläft dann endlich ein. Im Herbst war es aber so, dass sie in ihrem Bett nicht mehr in den Schlaf fand. Ich blieb also mit ihr auf dem Sofa und legte mich mit ihr zum Schlafen hin.Es kommt auch vor, dass sie nur im Bett spielt. Sie wird dann müde, döst mal ein, wird wieder wach. Dieses ewige Hin und Her kann ebenfalls drei bis vier Stunden dauern. Auch in diesem Fall, muss ich mich zu ihr legen, damit sie in den Schlaf findet. Die Schlafproblematik war auch ein Grund, warum wir ein sehr großes Pflegebett (1m x 2m) beantragt haben.

Bei allem nächtlichen Umtrieb sind das aber die schönsten Momente, da wir sehr innig nebeneinander liegen und Milly viel kuscheln will. Ich halte dann ihre Händchen und sie umschließt fest meine Hand. Sie lacht dabei zufrieden und quietscht vor Freude. Erst wenn sie schläft, könnte auch ich schlafen, bin nun aber hellwach. Wacht Milly erst um 4.30 Uhr auf, brauche ich mich gar nicht mehr hinzulegen und bin tagsüber entsprechend erschöpft. Milly aber auch. Sie ist nach einer solchen Nacht nicht so leistungsfähig wie üblich.

Für Markus und mich ist es wie Urlaub, wenn Milly nach Tagen und Wochen mit Durchschlafstörungen plötzlich wieder durchschläft. Die ersten Tage werde ich nachts ganz automatisch wach. Es braucht dann seine Zeit, um wieder innerlich zur Ruhe zu kommen.

Milly und ihr Nucki – eine Liebesgeschichte

„Er gehört zu mir, wie mein Name an der Tür …“ Wenn ein Schlager Millys Beziehung zu ihrem Nucki darstellen müsste, dann dieser. Ohne Nucki geht es bei Milly nämlich nicht. Sie braucht ihn nicht immer, kann auch lange Zeit ohne Nucki auskommen, nachts zieht sie ihn sogar heraus. Aber sobald sie unruhig wird und quengelt, müssen wir leider auf ihn zurückgreifen. Milly biss sich schon mal in den Unterarm, aber nur hin und wieder und ohne Wunden zu hinterlassen. Ich denke, ohne ihren Nucki würde sie sich richtig in den Arm beißen, um Spannung abzubauen. Da ist mir der Nucki schon lieber. Er gehörte auch zu den Gründen, warum wir für Milly einen Rollstuhl beantragt haben. Die Leute sprachen uns schon darauf an: so ein großes Kind und noch mit Schnuller. Man sollte gleich sehen, dass etwas mit dem Kind nicht stimmt und der Nucki daher seine Daseinsberechtigung hat. Er ist halt wirklich nicht altersgerecht, aber sie braucht ihn eben zur Beruhigung. Ohne Nucki gehen wir nicht aus dem Haus, es ist auch immer ein Ersatznucki dabei. Wie wir es schaffen, ihr den Nucki abzugewöhnen, wissen wir nicht. Es ist wahre Liebe, die aber hoffentlich bald vergeht.

Hygiene

Milly trägt immer noch Windeln. Wir haben vor Kurzem mit einem Toilettentraining begonnen. Es ist einigermaßen aufwendig, denn für uns ist es körperlich leichter Milly im Liegen die Windeln zu wechseln. Fürs Toilettentraining muss sie einer von uns halten, da Milly ja nicht stehen kann. Der andere zieht ihr gleichzeitig die Windelpants herunter bzw. nach dem Training wieder hoch. Im Stehen die Windel ab- und anzulegen, wäre viel zu aufwendig. Daher kaufen wir zusätzlich teure Windelhosen/Pants, die wir selber bezahlen müssen. Wir hoffen, dass wir irgendwann Erfolg haben werden, denn die Körperfunktionen selbst steuern zu können, wäre für Milly ein wichtiger Schritt in Richtung selbstbestimmtes Leben. Wie Milly uns aber verständlich machen kann, dass sie auf Toilette muss, wird die nächste große Hürde sein.

In diesem Zusammenhang möchte ich die Problematik der Körperhygiene unterwegs ansprechen. Es gibt zwar überall Behinderten-WCs. Aber die nützen schwerstpflegebedürftigen Menschen rein gar nichts. Diese WCs sind etwas für die fitten Behinderten, die mit dem Rollstuhl selber in das WC fahren, mit Hilfe der Halterung selber aufstehen und auf Toilette gehen können. Aber was nützt das einem Menschen, der das alles gar nicht kann? Pflegebedürftige Menschen brauchen mehr. Erstens Platz, denn oft müssen noch pflegende Angehörige mit auf das WC. Dann wäre eine Liege zum Wechseln der Windel nötig. Es gibt Liegen, die man herunterklappen kann, sie würden also kaum Platz einnehmen. So eine Liege würde ca. 300€ kosten. Landauf landab wird von Inklusion gesprochen. Damit könnte man mal anfangen, denn auch pflegebedürftige Menschen möchten gerne verreisen.

Nun fragen Sie sich vielleicht, wie mehrfach schwerbehinderte bzw. schwerstpflegebedürftige Menschen aktuell unterwegs gepflegt werden. Ich hatte diese Frage mal bei Rehakids gestellt. Es gab folgende Lösungen:

  • Zuhause bleiben
  • das Kind wurde auf dem Boden des Behinderten-WC gewickelt
  • das Kind wurde im Wald gewickelt
  • das Kind wurde im Kofferraum gewickelt oder auf dem Rücksitz des Autos
  • es wurde ein Feldbett mitgenommen

Wir hatten im letzten Jahr die Badeliege mitgenommen. Aber es war wenig Platz auf dem WC und sie war zum Wickeln zu unbequem für Milly. In diesem Jahr wickelten wir auch auf dem Rücksitz unseres Kleinbusses. Der Kofferraum wäre besser, aber den können wir so vollgepackt wie er ist nicht auf dem Parkplatz auspacken. Bei schlechtem Wetter mussten wir das WC der Raststätte aufsuchen. Wir hatten ganz großes Glück und konnten Milly auf einer stabilen Wickelkommode wickeln. Auf eine aufklappbare Babywickelstation können wir sie nicht mehr legen. Keine Ahnung, was wir machen, wenn sie größer wird und keine geeigneten Lösungen vorhanden sind.

Ich finde es diskriminierend, dass wir es schwerbehinderten Menschen zumuten, sich auf einen ekligen Toilettenboden pflegen lassen zu müssen. Selbst mit Unterlage ist das menschenunwürdig und ekelhaft.

Heidelberg, Juli 2017

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