Unser Leben mit Milly
Kinderhospize – Aufzeichnungen aus einem „Lebenshaus“
„Was ist denn los?“, „Ist was passiert?“ Besorgte Nachfragen erreichten uns über Email und WhatsApp, als wir in den Herbstferien freudige Grüße aus dem Kinderhospiz „Balthasar“ im sauerländischen Olpe an Familie und Freunde verschickten. Wir hatten gar nicht bedacht, dass das Wort „Hospiz“ alle anderen erst einmal einen ziemlichen Schrecken einjagen musste. Hospiz: das steht für Leid, Sterben, Tod, Abschied und Trauer.
Für Erwachsene sind Hospizdienste mit ihrer Palliativversorgung und -betreuung in der Tat vor allem Begleiter in der finalen Lebensphase. Bei Kindern bzw. Jugendlichen (bis zum 27. Lebensjahr) ist das nicht der Fall. Hier geht unser Gesetzgeber davon aus, dass die Eltern noch über viele Jahre die Pflege des Kindes meistern müssen und deshalb die Möglichkeit erhalten sollen, in einem Hospiz kurzzeitig von der Pflege entbunden zu werden. Dafür stehen dem erkrankten Kind mindestens 28 Tage Hospizunterbringung im Jahr zur Verfügung.
Im Gegensatz zu einer Mutter/Vater-Kind-Kur, müssen berufstätige Eltern aber Urlaub nehmen, wenn sie einen Hospizaufenthalt mit ihrem Kind wahrnehmen wollen. Über die Finanzierung des Aufenthalts brauchen sich die Eltern keine Gedanken zu machen. 95% der Kosten übernimmt die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung. Die restlichen 5% werden über Spendengelder des Hospizes abgedeckt. Anspruchsvoraussetzung einer Hospizunterbringung ist aber, dass der behandelnde Arzt eine unheilbare Erkrankung bescheinigt bzw. dass eine limitierte Lebenserwartung besteht oder bestehen könnte. Das ist vor allem für jene Eltern interessant, deren Kinder zwar mehrfach schwerbehindert und schwerst pflegebedürftig sind, aber (noch) keine Diagnose erhalten haben, weil die Erkrankung viel zu selten ist. Bei Mitgliedern der privaten Kranken- und Pflegeversicherung ist eine Hospizunterbringung auch möglich, aber die Finanzierung etwas komplizierter, weshalb man vorher unbedingt mit der Kranken- und Pflegekasse Rücksprache halten sollte. Als gesetzlich Versicherte mussten wir noch nicht einmal die Verhinderungspflege oder den Entlastungsbetrag dafür nutzen, also die Leistungen der Pflegeversicherung, die wir dringend zur Entlastung während des Jahres bzw. zur Finanzierung der horrenden Ferienbetreuungskosten benötigen.
Allerdings wird für die Tage des Aufenthalts das Pflegegeld gekürzt, was aber auch nachvollziehbar ist. Denn uns wurde wirklich ALLES abgenommen! Für uns war der Aufenthalt daher wie ein richtiger Urlaub, den wir schon seit Jahren nicht mehr hatten. Das „Balthasar“ ist bestens ausgestattet und bietet den Kindern und Jugendlichen so viele Möglichkeiten: Schwimmbad, Snoezelenraum, Lesezimmer, Musikzimmer, Kreativwerkstatt … und den Raum der Stille. Dieser so eindrücklich und harmonisch gestaltete Raum ist immer zugänglich und dient vor allem den Angehörigen, um von den verstorbenen Kindern Abschied nehmen zu können.
Der Aufenthalt war eine große Entlastung für uns. Wir Eltern waren im oberen Stockwerk in geräumigen Elternappartements mit Dusche und WC untergebracht. Jedes Kind hat im Erdgeschoss ein sehr großes, schönes und buntes Zimmer mit Pflegebett, Videoüberwachung und angrenzendem Badezimmer, das sich zwei Kinder teilen. Im Kinderzimmer steht auch noch ein schönes Schlafsofa, falls ein Elternteil doch lieber die eine oder andere Nacht beim Kind verbringen möchte. Die Pflegekräfte waren so liebevoll und zugänglich, Milly schloss sie alle gleich ins Herz. Die komplette Pflege wurde uns abgenommen, sogar Frühstück, Mittagessen und Abendbrot wurden für uns zubereitet. Wir mussten nichts machen.
Schon am Morgen hörten wir Milly unten im Gemeinschaftsbereich vor Freude lachen und quieken. Markus und ich hatten freie Zeiteinteilung und konnten tun und lassen, was wir wollten. So fuhren wir an einem sonnigen Tag nach Attendorn und schauten uns die wunderschöne Atta-Höhle an oder gingen abends ins Kino. Wir hatten nie das Gefühl, dass wir unsere Milly den Mitarbeitern des Hospizes nicht anvertrauen können.
Eigentlich erübrigt es sich zu erwähnen, dass es einen enormen Aufwand an Bürokratie, Organisation und Terminen brauchte, um uns diese 4,5 Tage Unbeschwertheit zu ermöglichen. Allein die Beschaffung einer richterlichen Fixierungsgenehmigung, die seit 2018 bei stationären Aufenthalten vorgelegt werden muss, würde ein eigenes Kapitel verdienen. Aber die Anstrengungen lohnen sich auf jeden Fall und ich habe bereits Hospizplätze für 2020 reservieren lassen. Dies ist vor allem deshalb nötig, da die Plätze – besonders in den Ferien – sehr begehrt sind. Eltern mit mehreren Kindern nutzen sie z.B., um für die Geschwisterkinder da sein zu können, die vor allem bei einer hohen Intensivpflege des kranken Kindes oft zu kurz kommen. Die Jahresplanung beginnt bei den Hospizen daher schon ab September für das folgende Jahr, weshalb man Anfragen spätestens dann stellen sollte.
Dennoch will ich nicht verhehlen, dass der Aufenthalt für uns etwas Surreales und Ambivalentes hatte. Es stimmte traurig zu realisieren, dass wir nur noch in einem Hospiz richtige Erholung finden werden. Millys Pflege ist für uns so selbstverständlich, dass wir gar nicht mehr wussten, was es bedeutet nicht pflegen und betreuen zu müssen, nicht fremdbestimmt zu sein. Schon die Zeit vor der Einschulung, einem so wichtigen Meilenstein für alle gesunden Kinder, war für mich schwer zu ertragen. Die Gewissheit, dass Milly nie wie gesunde Kinder selbständig werden würde, schmerzte sehr. Wir nutzten den Aufenthalt auch, um uns über Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung beraten zu lassen. Wer macht das schon in seinem Urlaub?
Und dann waren da die anderen Eindrücke: Im Gegensatz zu den sehr schwer beeinträchtigten Kindern, war Milly mit all ihren Defiziten sowas von fit und quietschfidel. Alle anderen Kinder waren bereits in fortgeschrittenen Krankheitsstadien bzw. so viel schwerer betroffen, dass es am Anfang nicht leicht war auf die Kinder zuzugehen. Manchmal hatte ich schon ein schlechtes Gewissen dort sein zu dürfen, wir hatten es ja so viel „leichter“. Und genau das zeigte uns dann wieder, wohin der Weg wohl führen wird und das wir die Zeit auskosten müssen, in der es Milly noch so gut geht. Und umso schöner war es wiederum zu erleben, wie viel Freude alle Kinder dort hatten und wie gut ihnen die Hingabe und Zuwendung der Pflegekräfte tat. Unser erster Hospizaufenthalt war daher eine große Bereicherung. Wir kamen zu der Erkenntnis, dass ein Hospiz kein „Totenhaus“, sondern vor allem ein Ort ist, das Wunder des Lebens zu feiern. Daher möchten wir an dieser Stelle allen Mitarbeitern des „Balthasars“ von ganzem Herzen für die unbeschwerte Zeit danken, die sie uns und Milly in dieser schönen Einrichtung ermöglicht haben.
Nun schauen wir dem nächsten Hospizaufenthalt mit großer Freude entgegen. Von Weihnachten 2019 bis Anfang Januar 2020 lernen wir das Kinderhospiz „Berliner Herz“ in Berlin-Friedrichshain kennen und können dadurch seit Langem mal wieder mit einem Teil meiner großen Familie Weihnachten im Havelland verbringen.
Heidelberg, 26.11.2019