Das soziale Umfeld

Leider können Markus und ich in Heidelberg auf keine Familie zurückgreifen. Wir sind auf uns allein gestellt und kennen nicht viele Menschen, waren in den Jahren nach der Geburt viel zu sehr auf Milly fixiert. Seit unserem Umzug Ende 2015 nutzen wir über die Pflegekasse die Verhinderungspflege und den Entlastungsbetrag. Mit Hilfe dieser beiden Instrumente bezahlen wir Sonderpädagogikstudentinnen mit der stundenweisen Betreuung von Milly. Unsere Nannys sind eine große Entlastung und Milly liebt sie alle sehr.

Unsere Studienfreunde leben weit weg von Heidelberg, wir haben nur selten Kontakt miteinander. Hier und da gibt es noch einen regelmäßigen Kontakt zu Freunden, die ich schon vor Millys Geburt kannte. Sie nehmen an unserem Leben Anteil und es ist schön von ihnen zu hören, auch wenn wir uns nicht oft sehen können. Was mich enttäuscht hat, war, wie einige langjährige Studienfreunde reagiert haben, als ich sie im Januar 2017 von Millys schrecklicher Krankheit unterrichtete, nämlich gar nicht oder nur kleinredend in drei Sätzen. Sicher, viele sind sprachlos und wissen nicht, was sie sagen sollen. Es gibt aber keine richtigen Worte und auch keinen richtigen Zeitpunkt. Markus und ich legen nun wirklich kein Wort auf die Goldwaage. Dass aber so gar keine Rückmeldung kommt, habe ich nicht erwartet.

Unsere Familien akzeptieren Milly wie sie ist und sie wird geliebt ohne Wenn und Aber. Meine Familie ist lutherisch geprägt, der funktionsfähige Mensch steht im Mittelpunkt. Sie trägt entsprechend schwer an der Diagnose. Die Beziehung zu Milly ist dennoch, oder vielleicht auch gerade deshalb, sehr innig. Oma und Milly sind ohnehin ein tolles Team. Aber auch meine Schwestern Ela, Susi und Corina haben Milly fest ins Herz geschlossen. Ela, Susi und meine Mutter haben auch schon einen Schlafentzug mitgemacht. Solche Erlebnisse sind prägend und sie können mitreden. Sie haben selber erfahren, wie anstrengend diese Termine für uns und Milly sind. Hat Milly einen Kliniktermin oder gar ein EEG, muss ich mich mehrmals am Tag melden. Hat der Schlafentzug gut geklappt? Wie war Milly drauf? War das EEG aussagekräftig? Wie geht es Milly nach dem EEG? Ändert sich was an den Medis? Ich muss sie ständig auf dem Laufenden halten.

Eltern, deren Kinder nur die Diagnose „Entwicklungsverzögerung“ haben, werden in ihrem sozialen Umfeld oft nicht ernst genommen. Das Wort Verzögerung suggeriert, dass das schon noch was wird. Mich irritierte das Schweigen des Umfelds oft: War unsere Situation denn etwas so Selbstverständliches? Ich denke aber, dass auch Familie, Freunde, Kollegen, Bekannte verunsichert waren und es für sie selber nicht greifbar war, was eigentlich mit Milly los ist.

Große moralische Unterstützung kommt von Freunden, die wir erst aufgrund Millys Behinderung kennengelernt haben. Auch wenn wir uns nicht oft sehen können, tut mir der Kontakt mit ihnen gut. Kaum hatte ich ihnen Millys Diagnose mitgeteilt, kamen postwendend einfühlsame und unterstützende Antworten. Natürlich sind sie in einer ähnlichen Situation. Es gibt viel mehr Verständnis für schwierige Lebenslagen, so z. B. beim stationären Aufenthalt Ende Mai 2017 zur Epilepsiediagnostik. Wer schon mal einen mehrtägigen stationären Aufenthalt mit seinem Kind absolviert hat, weiß, wie belastend das ist. Der braucht auch kein dreitägiges EEG-Monitoring durchgeführt zu haben, um erahnen zu können, wie anstrengend das für Kind und Eltern sein muss. Milly war verdrahtet und durfte sich nur im Dunstkreis ihres Bettes „bewegen“. Es war ein Kraftakt sie den ganzen Tag beschäftigen zu müssen, sie kann ja nicht mal eben malen oder basteln. Unsere Möglichkeiten sind sehr beschränkt. Als sie nach 72 Stunden endlich „abgestöpselt“ wurde, flüchteten wir mit ihr in den Zoo – bei über 30 Grad Hitze. Milly sagte keinen Mucks und genoss einfach nur die Freiheit. Für sie war es genauso kraftraubend.

Denke ich an die letzten Jahre zurück, dann mussten Markus und ich die meiste Last alleine tragen und ich bin stolz darauf, wie wir das alles gemeistert haben.

Im Zoo trafen wir übrigens eine ehemalige Ziegelhäuser Nachbarin mit ihren beiden Kindern. Sie fragte, was wir denn hier machen. Ich antwortete ganz freudig, dass wir aus der Klinik von einem stationären Aufenthalt geflüchtet sind. Da klappte ihr die Kinnlade runter und sie setzte eine Betroffenheitsmine auf. Ich merkte, was ich „angerichtet“ hatte und beschwichtigte. Für uns ist ein Klinikaufenthalt nichts Besonderes mehr, für sie eine Horrorvorstellung.

Seit wir in der neuen Wohnung leben, haben wir einen netten und gelegentlichen Kontakt zu den Nachbarn. Aber es kommt kein Kind vorbei, um mit Milly zu spielen. Wir sind sicherlich die Eltern von dem behinderten Mädchen. Das stört mich aber nicht. Ich gehe locker damit um und bin überzeugt, wenn ich kein Problem daraus mache, dann färbt das ab. Wenn wir unserer Umwelt signalisieren, dass wir im Reinen mit uns sind, bauen sich auch bei anderen Berührungsängste ab.

Als Milly ihren Rolli bekam und die Leute sich umdrehten, sagte ich immer, dass sie ihrem Rolli nachschauen, weil er so hübsch ist. Wir wählten extra eine kindgerechte Farbe (Flamingoglitzer) und einen bezaubernden Speichenschutz mit Blümchen und Herzchen, sozusagen Millys Charmeoffensive. Muss man denn da noch Angst haben?

Heidelberg, Juli 2017