Wo ist das Problem?

In Unser Leben mit Milly hatte ich bereits erwähnt, dass das soziale Umfeld in Bezug auf das Anderssein bzw. die gesundheitlichen Einschränkungen des Kindes unsicher ist, sie nicht ernstnimmt und den Eltern damit signalisiert, dass es so schlimm gar nicht sein kann. Eine Erkrankung oder die ausbleibende Entwicklung des eigenen Kindes mitzuerleben, nicht zu wissen, was dahinter steckt und gar nichts tun zu können, macht hilflos. Vielleicht ist es auch zu viel verlangt zu erwarten, dass Nichtbetroffene Verständnis haben und ansatzweise erahnen können, durch welche Höllen und Fegefeuer betroffene Eltern in einer solchen Situation gehen. Dennoch bin ich der Ansicht, dass oft nicht viel Fantasie fehlen dürfte. Wie würde ich empfinden? Wer sich allein diese Frage stellt, befähigt sich selber dazu Menschen in schweren Lebenslagen mit mehr Verständnis zu begegnen.

In unserem näheren Umfeld gab es Reaktionen, die verstörend und nicht angemessen waren. Ich möchte keine Vorwürfe erheben. Die Problematik ist in ihrer Wucht vielleicht so gewaltig, dass uns nahestehende Menschen nicht in der Lage sind, sie an sich heran zu lassen und in die Auseinandersetzung damit zu gehen. Keine Frage: Es würde für jeden von uns schwer sein, den richtigen Ton zu treffen. Doch die richtigen Worte gibt es nicht. Aber es gibt in jedem Fall die falschen, nämlich dann, wenn außergewöhnliche Lebenssituationen banalisiert, pauschalisiert und verharmlost werden. In diesem Zusammenhang sind mir vor allem folgende Sätze in Erinnerung geblieben.

Andere Leute haben auch ihre Probleme.

Ein Satz wie ein Dolchstoß. Um eines gleich vorweg zu nehmen: Ja, auch andere haben ihre Probleme. Das steht hier nicht zur Debatte. Nur nicht jedes Problem ist vergleichbar. Natürlich kann es sehr bedrückend und kräftezehrend sein, wenn ein Kind verhaltensauffällig oder schwer erziehbar ist, wenn es Probleme in der Schule hat oder seine Eltern aus anderen Gründen an die Belastungsgrenze bringt. Hinzukommen Eheprobleme, Beziehungsprobleme, Probleme am Arbeitsplatz, familiäre Konflikte und dergleichen mehr. Es wird für jeden von uns auch kaum möglich sein, ein völlig problemloses Leben zu führen. Aber ich kann doch den oben erwähnten Satz trotz dieser Probleme nicht Menschen in äußerst belastenden Lebenssituationen entgegenbringen und so tun, als wäre nichts passiert. Selbstverständlich haben auch andere Eltern Stress, müssen mit ihren Kindern zu Terminen usw. Ich würde aber schon sagen, dass es einen Unterschied zwischen Ballettunterricht, Fußballtraining, Reiterhof und unangenehmen, schmerzhaften Therapien, ständigen Arztterminen und Klinikaufenthalten gibt. Das eine ist Freizeit und Spaß, das andere das Gegenteil davon.

Man kann keinen Vergleich zwischen den üblichen Alltagssorgen, die wir Eltern schwer kranker Kinder übrigens noch nebenher zu stemmen haben, und einschneidenden und traumatischen Lebenskrisen ziehen. Wir reden hier von außergewöhnlich hohen psychischen und physischen Belastungen, wie die permanente Sorge um die eigene Gesundheit und Lebensqualität oder die eines Angehörigen, die Angst um die ökonomische Existenz, die Furcht davor, das alles nur noch schlimmer werden wird. Solche Sätze sind nicht nur verletzend, sondern einfach nur zynisch und völlig unangebracht.

Jedes Kind kann schlimm erkranken.

Auch das ist richtig. Nur nicht jedes Kind erkrankt schwer. Jeder Mensch kann arbeitslos werden. Aber nicht jeder wird es. Es ist etwas anderes, ob ich es bin, die gerade in dieser Situation steckt und sich damit auseinandersetzen muss oder ob es eine theoretische Wahrscheinlichkeit für mein Gegenüber gibt, irgendwann einmal – wenn überhaupt – mit diesem Problem zu tun zu haben. Was nützt solch ein inhaltsloser Satz einem betroffenen Menschen, der einfach nur Verständnis für seine Lage, seine Verzweiflung, seine Angst haben und ernst genommen werden möchte. Das Wissen darum, dass es theoretisch auch alle anderen treffen kann, wird ihm kaum Trost spenden.

Es gibt Formulierungen, die in die gleiche Kerbe schlagen. Der Abschnitt über unseren Kampf um die Hilfsmittel erinnerte mich daran, wie oft ich das Gefühl hatte, mich für die Leistungen, die Milly erhält, rechtfertigen zu müssen. Ich bekam zu hören: Seid doch froh, dass Milly überhaupt mit Hilfsmitteln versorgt wird. Alternativ: Sie hat doch schon so viele Hilfsmittel, irgendwann ist es auch mal genug, wer soll das denn alles bezahlen? Woanders bekommen behinderte Menschen viel weniger oder gar nichts.

Natürlich bin ich froh und dankbar, dass es in unserem Land einen gut ausgebauten Sozialstaat gibt, dass es überhaupt einen sozialen Frieden gibt, dass es eine solide medizinische Versorgung gibt, ein sehr gutes Bildungssystem, eine soziale Marktwirtschaft, eine funktionierende Demokratie und, dass wir in einem Rechtsstaat leben. Und genau aus diesem Grund nehme ich mir das Recht heraus, die Rechtsansprüche, die mein Kind hat auch einzufordern. Behinderte Menschen haben die gleichen Rechte und Pflichten. Es spielt keine Rolle, wie viele Hilfsmittel ein behinderter Mensch hat. Wenn seine gesundheitlichen Einschränkungen und individuellen Rahmenbedingungen diese Hilfsmittel erforderlich machen und ein Rechtsanspruch darauf besteht, dann kann er diesen geltend machen und die Versorgung mit den zur Verfügung stehenden Rechtsmitteln auch durchsetzen.

Es geht mir nicht um eine Versorgung mit der Gießkanne. So wenig wie möglich, aber auch so viel wie nötig. Spinnen wir den gedanklichen Faden dieses Satzes doch noch in anderen Lebensbereichen weiter und stellen uns z. B. eine Mutter vor, die sich darüber beschwert, dass wieder so viele Unterrichtsstunden bei ihrem Kind ausgefallen sind. Außerdem werden die Schultoiletten immer noch nicht vernünftig gesäubert, obwohl die Problematik schon so oft vom Elternbeirat an die Schulleitung herangetragen wurde. Die Reaktion der Schule: Seien sie doch einfach mal dankbar, dass ihr Kind überhaupt zur Schule gehen kann. Oder die Mutter erkrankt, braucht diagnostische Untersuchungen und beschwert sich über die langen Wartezeiten auf einen Facharzttermin. In der Praxis bekommt sie zu hören: Seien sie doch einfach mal froh, dass es hier ein so gutes Gesundheitssystem gibt, in anderen Ländern bekommen sie viel später einen Termin und müssen obendrein die Behandlung noch selber bezahlen. Die Mutter würde sich mit ihrem Anliegen nicht ernst genommen fühlen.

Die Dankbarkeit und Freude über die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Errungenschaften im Allgemeinen hat nichts damit zu tun, dass wir sie im Detail nicht doch kritisieren und unsere Ansprüche geltend machen dürfen. Nur so ist letztendlich eine gesellschaftliche Weiterentwicklung möglich. Dieses Recht steht auch behinderten Menschen und ihren Angehörigen zu. Benachteiligten und schwer eingeschränkten Menschen mit solchen Sätzen die Butter auf dem Brot zu neiden, ist kein guter Stil.

Und was die Höhe der Kosten betrifft: Welches Menschenbild liegt nur solchen Äußerungen zugrunde? Hier der vollwertige und nützliche gesunde Mensch, dort der Behinderte, der der Gesellschaft nur zur Last fällt? Das wäre erschreckend. Gehen wir zum Arzt wird so lange behandelt und alles versucht, bis eine Besserung eintritt oder ein Behandlungserfolg aussichtlos ist. Niemand käme auf die Idee zu fragen, warum denn noch diese oder jene Behandlung nötig sei, die Behandlungskosten sind bereits schon so hoch und es wurde ja schon so viel versucht. So wie jeder von uns über die Höhe seiner Behandlungskosten keine Rechenschaft ablegen muss, müssen sich schwerbehinderte Menschen auch nicht für ihre Hilfsmittelversorgung entschuldigen.

Die Inklusionsbemühungen stecken in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Unser Sozialsystem baut darauf auf, dass die Starken die Schwachen stützen. Und die Starken sollten sich immer dessen bewusst sein, dass sie es schon morgen sein könnten, die auf Unterstützung angewiesen sind. Man kann das wundervolle Zitat Richard von Weizsäckers nicht oft genug wiedergeben: „Nicht behindert zu sein ist wahrlich kein Verdienst, sondern ein Geschenk, das jedem von uns jederzeit genommen werden kann.“