Millys Geschichte
2013 – Sorgen und Hoffnung
Es muss um Ostern 2013 gewesen sein, als Milly begann, sich plötzlich auf die Seite zu drehen. Wir waren glücklich und Hoffnung kam auf. Die wurde aber durch die vielen Arzt- und Therapietermine immer wieder zunichte gemacht. Regelmäßig ging ich mit Milly zur Physiotherapie. Nach etlichen Wochen fragte ich die Therapeutin, ob die Nackenblockade noch für den motorischen Entwicklungsrückstand verantwortlich sein kann. Sie meinte nein, das kann nicht sein. Was sie vermutete, sagte sie aber auch nicht. Ich traute mich nicht zu fragen, hatte vor der Antwort Angst. Denn mittlerweile war unverkennbar, dass Milly auch kognitiv nicht wie Kinder in ihrem Alter reagierte. Erste Laute von sich geben, auf etwas zeigen, etwas nachahmen: Fehlanzeige. Die Therapeutin sagte immer mal wieder, dass dieses und jenes Verhalten auch die Kinder in der Pusteblume, eine integrative KITA in Heidelberg mit vielen schwerbehinderten Kindern, zeigen. Die Kinder in der Pusteblume … von denen wollte ich nichts hören und wissen. Die hatten mit meinem Kind rein gar nichts zu tun.
Im August 2013 begann ich wieder beruflich tätig zu sein. Vormittags arbeitete ich und holte Milly um 14 Uhr von der Kinderkrippe ab. Sie fühlte sich dort wohl, die Erzieherinnen dieser privaten Einrichtung waren auch sehr liebevoll. Aber dennoch war sie schnell „das andere Kind“. Markus und ich hatten bei der Anmeldung natürlich über Millys Entwicklungsverzögerung berichtet. Das war erstmal kein Problem. Nun holte ich sie nachmittags ab und sah sie in der Ecke liegen. Vier Erzieherinnen saßen daneben und plauderten miteinander, die anderen Kinder spielten und meine Kleine lag nur herum. Sie konnten und wollten nichts mit ihr anfangen. Das tat mir weh, zumal mein Spießrutenlauf nicht enden wollte. Denn ich verglich Milly mit den anderen Kindern, die teilweise noch jünger waren. Ich war immer froh, wenn ich mit ihr wieder zuhause war. Irgendwann sprach ihre Erzieherin mich wegen der Betreuungssituation an. Man müsse mal darüber reden – Unterton: sie ist ja doch sehr aufwendig und so nicht mehr tragbar. Ich fuhr tieftraurig und bitter enttäuscht nach Hause und hatte Angst, dass sie Milly nicht mehr wollen. Wer würde sie jetzt noch nehmen? Und wie sollte ich das mit der Arbeit in Einklang bringen? Markus beruhigte mich und übergangsweise wollte sich eine junge Heilerzieherin um Milly kümmern. Gleichzeitig sollte angeblich aber auch geprüft werden, ob für Milly nicht eine Integrationshilfe bezahlt werden könnte. Dazu musste vom staatlichen Schulamt Mannheim eine Gutachterin in die Krippe kommen.
Wir hatten nun einen runden Tisch in der Einrichtung und ich kam mir vor wie vor einem Tribunal. Letztlich hatte mich mein Gefühl nicht getäuscht. Sie wollten Milly loswerden. Ohne mit uns zu reden, hatte die Krippe hinter unserem Rücken Kontakt zur Pusteblume aufgenommen. Milly konnte dort zum Herbst 2014 einen Platz bekommen. Endstation Pusteblume! Nun war es also soweit und meine Milly musste auch dorthin. Ich fühlte mich gedemütigt und hintergangen. Ich wollte aber nicht um den Krippenplatz kämpfen. Meine Milly war ihnen keine Chance wert, also soll sie auch nicht mehr in diese Einrichtung, deren tolle Meilensteine sie nicht erreichen und den super Toy Talk nicht sprechen konnte.
Die Gutachterin war aber eine sehr sympathische Person und gab mir Hoffnung, dass die neue Einrichtung das Richtige für Milly wäre. Milly hätte nun auch Anspruch auf einen Bustransport. Das würde mir zumindest den alltäglichen Spießrutenlauf vor den Eltern der gesunden Kinder ersparen.
Die Arbeit in einem Heidelberger Jobcenter machte mir Spaß. Bis auf den Tag gegen Ende des Jahres. Millys erfahrener Kinderarzt hatte bereits frühzeitig eine Überweisung ins Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) Heidelberg veranlasst. Wir warteten Monate auf einen Termin. Endlich war es soweit, aber der junge Arzt dort sah keinen Handlungsbedarf und versprach sich nichts von EEG und MRT. Wir sollten in sechs Monaten wieder kommen. Ich war erleichtert, dann konnte es ja nicht so schlimm sein. Doch Millys Kinderarzt verstand die Welt nicht mehr. Der Entwicklungsrückstand war gravierend, er wollte das abgeklärt haben. Zwischenzeitlich waren wir wieder mit Milly zu einer dieser U-Untersuchungen bei ihm. Während sie untersucht wurde, sah der Kinderarzt, wie Milly plötzlich innehielt und ihre Hände aneinander rieb. Das machte sie immer mal wieder, wenn sie so „verträumt“ war und – wie damals im Auto – auf nichts reagierte.
Der Kinderarzt muss sich telefonisch noch mal bei Markus gemeldet haben. Ich war gerade fertig mit der Arbeit, als Markus anrief. Er redete zögerlich und wusste nicht genau, wie er es mir am besten rüberbringen sollte: der Arzt hatte eine Vermutung. Er wollte mir nicht sagen, was, ich würde mir nur Sorgen machen. Nun gab es aber kein Zurück mehr, ich war ganz aufgewühlt. Ich bestand auf Auskunft und er sagte: den Kinderarzt erinnert Millys Verhalten an ein Kind, das er vor vielen Jahren einmal in seiner Praxis behandelte. Dieses Kind hatte das Rett-Syndrom. Sofort schaute ich im Internet nach und brach fast zusammen. Schwere geistige und körperliche Behinderung. Symptome wurden aufgelistet, manches traf zu, anderes überhaupt nicht. Ich war wie gelähmt, schleppte mich zur Krippe, holte Milly und schaffte es zurück nach Hause. Dann weinte ich. Es war nur eine Vermutung, aber das spielte keine Rolle. Zum ersten Mal wurde ausgesprochen, was wir schon lange befürchteten. Ich wollte mich damit aber nicht auseinandersetzen. Ab jetzt fuhr meine Gefühlswelt Achterbahn. Mal oben angekommen hoffte ich wieder, da vieles gegen das Rett-Syndrom sprach. Aber nein, irgendwas musste sie doch haben und ich landete wieder unten, denn einiges sprach ja schließlich dafür. Erneut endete ein Jahr und ich wollte nicht wissen, was das nächste bringt.