2017 – Gewissheit und Aufbruch

Mitte Januar 2017 erfuhren wir also, dass unsere Milly eine sehr seltene neurodegenerative Erkrankung hat, die BPAN abgekürzt wird.

Markus und ich gingen gefasst mit der Diagnose um, wir hatten die Stadien von Verzweiflung, Angst und Trauer schon lange hinter uns gelassen und waren innerlich auf eine schwere Diagnose vorbereitet. Dass es so schlimm ist, haben wir uns aber nicht vorstellen können. Wir hoffen, dass bis zum Einsetzen des Degenerationsprozesses ein Medikament oder eine Therapie entwickelt wird. Unabhängig davon wollen wir den Weg gemeinsam mit Milly gehen und ihr ein schönes und abwechslungsreiches Leben ermöglichen.

Wir informierten die Familie und Freunde, die alle fassungslos und schockiert waren. Ich aber war in den Tagen nach der Diagnose kurioserweise total euphorisch. Endlich Gewissheit! Mir war nicht bewusst, wie sehr ich diese Klarheit gebraucht hatte. Ich war in einer „Ich hab es ja immer gesagt“-Stimmung. Es war nur noch eine Bestätigung dessen, wovon ich immer überzeugt war. Vor allem die Tatsache, dass dieser Gendefekt ohne jegliche innere oder äußere Einflüsse entstanden ist, beruhigte mich sehr. Ich hatte nichts falsch gemacht. Andererseits machte gerade das es so unvorstellbar, warum es ausgerechnet unsere süße Knuddelmaus traf. Ich zweifelte wieder, das konnte doch alles nicht wahr sein. Einige Wochen später telefonierte ich mit der Humangenetikerin und wollte es ganz konkret wissen. Hätte es nicht doch sein können, dass diese Mutation spontan entstanden ist, weil ich eine Infektion oder unbewußt etwas falsch gemacht hatte? Sie antwortete ausdrücklich mit nein. Ich hakte nach: Und wenn ich während der Schwangerschaft z. B. neben einem Atomkraftwerk gewohnt hätte? Auch dann nicht. Ich hätte die Entstehung dieses Gendefekts durch rein gar nichts beeinflussen können. Das zu wissen, war wichtig, um diese schwere Diagnose verarbeiten und die Unsicherheit der Zukunft annehmen zu können. Ich hoffe aber, dass wir noch viele schöne Jahre mit Milly haben werden und der Degenerationsprozess erst sehr spät einsetzen wird.

Die Gewissheit über das Los unserer Tochter, setzte in Markus und mir neue Energien frei. In den Tagen nach der Diagnose, sammelten wir die spärlichen Informationen, die das World Wide Web über BPAN zur Verfügung stellte. Wir wollten wissen, mit was für einer Krankheit, wir es zu tun hatten. Es machte mir oft Angst, dieser Krankheit in die Augen zu schauen, da sie so wenig erforscht war und es bis jetzt nicht sicher ist, was auf Milly eines Tages zukommen wird. Markus dagegen hatte weniger Mühe damit, die Krankheit in unser Leben zu lassen. Er ist Naturwissenschaftler und fand viele Aspekte der Humanmedizin und Molekularbiologie sogar sehr spannend, er setzte sich intensiv mit NBIA und BPAN auseinander.

Ich aber hatte noch ein wichtiges Anliegen. Ich wollte anderen betroffenen Familien in ähnlicher Situation zur Seite stehen. Da es meist keine Selbsthilfegruppen Vorort gibt, wollte ich unsere Erfahrungen über das Internet, als schnell zugängliche Quelle, mitteilen. Die Idee einer eigenen Website war geboren.

Eigentlich hatte ich vor, Millys Geschichte nur in aller Kürze wiederzugeben. Je mehr ich aber schrieb und je öfter ich die Schrecken der vergangenen Jahre heraufbeschwor, umso umfassender wurde meine Niederschrift. Viele Details waren mir überhaupt nicht mehr bewusst und ich durchlebte die Hoffnung, die Sorge, die Angst, die Wut, die Schmerzen und die Trauer erneut.

Nach und nach wurde die Website immer umfangreicher. Es ging mir auch nicht mehr nur darum unsere Geschichte zu erzählen. Ich wollte Mut machen, Tipps geben, Gedanken mitteilen, einen Weg aus einer als ausweglos empfundenen Situation aufzeigen. So ging zu Millys fünften Geburtstag, dem 18.07.2017, www.millys-mission.de online.

Parallel fanden wir in den Gründern des Vereins Hoffnungsbaum e.V., dem Ehepaar Klucken, engagierte und mutige Mitstreiter. Außerdem traten wir der BPAN-Facebook-Gruppe bei. Vor allem das außergewöhnlich hohe Engagement der US-Familien inspirierte und imponierte uns sehr. Donald Trump war gerade zum US-Präsidenten gewählt worden und es schien, als hätten nicht nur wir uns mit einer schrecklichen Diagnose auseinanderzusetzen, sondern die ganze Welt. Die US-Familien ließen sich davon nicht beeindrucken und sammelten unbeirrt weiter Spenden, um die BPAN-Forschung finanzierbar zu machen. Genau dieser Unternehmergeist war für uns eine Initialzündung. Mir war es unsagbar peinlich, tatenlos daneben zu stehen, während auf der anderen Seite des Ozeans so viele Familien hochaktiv sind. Für uns war klar, dass auch wir in Europa endlich mit anpacken müssen, um BPAN den Kampf anzusagen. So entwickelte sich Millys Mission gegen Ende des Jahres 2017 von einer stillen Website zu einer Online-Fundraising-Kampagne, die wir offensiv in die Öffentlichkeit trugen.

Es ist ein hartes Stück Arbeit und nicht leicht, das Thema in der Öffentlichkeit zu etablieren. Wir müssen uns viel an Wissen aneignen, Netzwerke knüpfen, Kontakte anbahnen, Geduld haben und auch Niederlagen einstecken. Aber die Kampagne macht Spaß. Wir haben interessante neue Leute aus der medizinischen Fachwelt und der Medienbranche kennengelernt und erhielten viele aufbauende Rückmeldungen von Spendern und Unterstützern. Wir können Ideen einbringen, kreativ sein, Projekte ausprobieren, uns persönlich weiterentwickeln. Wir können handeln, anstatt ohnmächtig daneben zu stehen und zuzusehen, was diese Krankheit bei unserem Kind anrichten wird. Millys Mission ist daher ebenso eine Bewältigungsstrategie, die Überwindung einer schweren Lebenskrise.

Milly hat unser Leben verändert, aber nicht negativ. Wir haben viel an Einsichten und neuen Eindrücken durch Milly gewonnen. Eigentlich wollten wir immer unserem Schneckchen die Welt zeigen, aber nun zeigt sie sie uns. Auch innerhalb der Familie hat Milly so viel in Bewegung gesetzt und verfestigte Meinungen aufgebrochen. Wir mussten und müssen uns nun zwangsläufig mit Krankheit, Behinderung und Tod auseinandersetzen. Aber wir lernen auch, das Wichtige im Leben vom Unwichtigen zu trennen, die Zeit und das Jetzt zu nutzen, nicht in der Vergangenheit zu verharren, nicht nur darüber zu grübeln, was die Zukunft bringen könnte und die Zeit nicht mit sinnfreien Kram zu verschwenden. Ich rege mich nicht mehr über irgendwelchen belanglosen Mist auf, wer was über mich denken könnte etc. Wir haben eine ganz andere Messlatte. Millys Schicksal gibt uns viele neue Erkenntnisse, über die ich noch vor Jahren nicht einmal hätte nachdenken wollen. Aber sobald man sich mit den Gespenstern des Lebens auseinandersetzt, sich ihnen nähert, verliert man die Angst davor. Ein Leben ist auch mit Krankheit und Behinderung lebenswert, kann genauso bereichernd sein. Wir haben durch Milly ganz viele tolle Menschen kennengelernt, neue Freunde gefunden. Darüber sind wir sehr froh und dankbar. Und wir haben auch gesehen, wer in der Not wirklich zu uns steht.

Ja, es ist nicht das Leben, das ich mir erhofft habe. Aber es ist auch nicht das Katastrophenszenario, das ich mir immer von einem Leben mit einem behinderten Kind ausgemalt habe. Oft lese ich in Zusammenhang mit Pränataldiagnostik, dass ein behindertes Kind (und hier ist vor allem eine geistige und/oder schwere körperliche Behinderung gemeint) dem Leben den Sinn nimmt. Der ganze Aufwand für was eigentlich? Diese Frage habe ich mir nach der Diagnose auch gestellt. Aber sollte man nicht erstmal fragen: Was überhaupt gibt dem Leben einen Sinn? Ist der Sinn des Lebens nicht das Leben selber? Man wird geboren, man lebt, man stirbt. Vielleicht ist es so banal, wie es sich anhört. Natürlich haben wir einiges im Leben selber in der Hand, können an dem einen oder anderen Rädchen drehen. Aber vieles liegt eben nicht in unserer Macht. Wir müssen es nehmen wie es ist und einen Umgang damit finden. Es gibt ein schönes Zitat von Schopenhauer: „Das Schicksal mischt die Karten, und wir spielen.“ Wir können mit den Karten, die uns das Leben in die Hand gibt, das Leben auch schön gestalten. Trotz Krankheit oder Behinderung kann man dem Leben Sinn verleihen. In jedem Fall ergibt es keinen Sinn, Dingen hinterher zu trauern, die man nicht mehr ändern oder beeinflussen kann. Milly wird nie mit mir um die Wette rennen. Na und? Dann rollt sie halt durchs Leben. Der Sinn des Lebens besteht nicht darin darauf zu warten, dass sich unsere Wünsche und Erwartungen an uns selbst und an andere einmal erfüllen werden. Der Sinn liegt für mich darin, durch das eigene Leben das Leben anderer zu bereichern in welcher Form auch immer.

Milly hat mein Leben reicher gemacht! Und ich möchte die Zeit, die wir mit ihr haben bewusst mit Leben füllen, für sie und für uns. Es ist zwar nicht der Weg, den ich mir für Milly und uns erträumt habe. Aber es ist ein Weg und ich darf ihn gehen.

Aktualisiert am 16.06.2019