Wie schafft ihr das nur?

Die ältere Dame, die uns in der Straßenbahn gegenüber sitzt, lächelt Milly liebevoll an. Sie fragt mich, ob Milly auch geistig behindert ist. Ich bejahe. “Na, da haben Sie aber auch eine Lebensaufgabe”, erwidert sie. Ich lächle gezwungen zurück. Sie meint es nicht böse und doch: ihre Aussage lässt mich mit einem Störgefühl zurück. Warum nur fühle ich mich nicht gut dabei?

Es ist einer dieser Sätze, die wohl alle Eltern mit mehrfach schwerbehinderten Kindern früher oder später zu hören bekommen. Wir hören ihn oft, seit Milly aus dem Buggyalter heraus ist und ihre geistigen, kommunikativen und körperlichen Behinderungen deutlich sichtbar sind.

In abgewandelter Form haben wir unser Päckchen zu tragen oder wir haben ja ganz andere Sorgen. Überhaupt: Wie schaffen wir das nur? Sehr beliebt auch: Milly hat mit uns die richtigen Eltern bekommen. Und natürlich darf der Klassiker nicht fehlen: Also ich könnte das ja nicht.

Am liebsten würde ich dann antworten: Und wenn du es müsstest? Auch gesunde Kinder können erkranken oder verunfallen und dadurch schwere Behinderungen davon tragen. Würdest du dein Kind dann im Wald aussetzen? Oder es in ein Heim geben? Es gar umbringen? Natürlich nicht! Man tut, was man tun muss und was für das Kindeswohl erforderlich ist. Egal, wie schwer der Weg ist.

Das könnte ich nicht, meint nämlich eigentlich das will ich nicht. Niemand möchte ein krankes oder behindertes Kind haben oder selber schwer krank, behindert oder pflegebedürftig sein. Ich auch nicht. Wenn mich jemand fragen würde, ob ich mit einer schweren Krebsdiagnose leben könnte, ich würde sofort verneinen. Aber das Leben fragt nicht danach, was wir wollen oder können. Wenn ich eine Chance auf Leben will, müsste ich mich der Diagnose stellen und alles tun, um gesund zu werden, egal, was es mich an Strapazen, Schmerzen und Verzweiflung kosten mag.

Auf den ersten Blick vermitteln diese Sätze Wertschätzung. Denn es ist eine große Leistung mit einer schweren Erkrankung zu leben oder über viele Jahre zu pflegen und/oder ein schwerbehindertes Kind zu betreuen. Wer solche Sätze sagt, meint es erstmal gut und erkennt die Situation des Gegenübers an. Ich weiß das auch wirklich zu schätzen.

Dennoch verstimmen mich solche Aussagen, denn sie werten mich ab. Es werden die eigenen Empfindungen und Ängste bzw. die eigenen Lebensumstände auf mich übertragen. Aber ich bin nicht in der Lebenssituation des anderen. Solche Aussagen schließen mich daher aus. Sie stellen mich auf eine fremdkonstruierte andere Seite des Lebens. Sie vermitteln mir, wie schwer ich es doch haben muss und unterstellen etwas, was es (vielleicht) gar nicht gibt. Ich will nicht vorgehalten bekommen, wie anders oder unglaublich schwer mein Leben doch sein muss, wenn ich das gar nicht so empfinde.

Diese Sätze rütteln auch immer an einem Trauma. Sie holen die Schrecken der Vergangenheit hervor und lassen mich, die ich mir den Weg so mühsam ins Leben zurück erkämpft habe, mit großen Zweifeln zurück: Empfinde ich falsch? Darf ich mich in meiner Lage eigentlich auch gut fühlen, wo ich es doch so schwer getroffen habe? Ist mein Kind kein Kind, sondern wirklich nur eine Belastung?
Werde ich das noch lange schaffen? Werde ich Kraft haben, um die Zukunft zu gestalten? … Ich brauche viel Energie, um mich nach solchen Aussagen wieder zu erden und mir bewusst zu machen: Ich bin ich und die Aussage des/der Anderen hat gar nichts mit mir, sondern nur mit ihm/ihr zu tun. Jetzt ist alles gut. Was kommt, kommt und dann sehen wir weiter.

Doch wie könnte man formulieren, ohne gleich vor den Kopf zu stoßen? Mein Vorschlag wäre, immer eine Tür offen zu lassen und z. B. zu fragen: Wie geht es dir damit? Kommst du klar? Ich stelle es mir anstrengend vor, ist das so? Formulierungen dieser Art geben mir die Möglichkeit abzuwägen und die Richtung selber zu bestimmen, anstatt vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Ich kann mich entscheiden und sagen, dass unser Leben manchmal nicht leicht und auch mit Stress verbunden ist. Aber es gibt auch schöne Momente, die ich sehr genießen kann.

Man muss auch berücksichtigen, dass es so viele Vorurteile über Menschen mit Behinderungen bzw. über das Leben mit ihnen gibt. Manchmal muss ich schmunzeln, wenn ich gefragt werde, ob Milly auch in den Kindergarten oder zur Schule geht. Die Leute denken wirklich, Milly ist die ganze Zeit an mich gekettet oder ich an sie und das bis an unser Lebensende. Sie können sich nicht vorstellen, dass auch ich Freiräume habe, einer Arbeit oder meinen Hobbys nachgehen kann, dass sich unser Leben in seiner Tagesstruktur oft nicht viel vom Leben anderer unterscheidet.

Ein Satz der auch weh tut: Milly hat so ein Glück euch als Eltern zu haben. Mir ist klar, dass dieser Satz uns darin bestärken soll alles richtig gemacht zu haben, denn Milly ist ein so ausgeglichenes und glückliches Kind. Und natürlich ist es traurig, wenn Eltern mit ihrem behinderten Kind überfordert sind. Aber solche Eltern wären mit Sicherheit auch mit einem gesunden Kind überlastet. Bei gesunden Kindern sagt aber niemand, dass sie die richtigen Eltern haben. Doch alle Kinder brauchen Liebe und Fürsorge, sie wollen nicht vernachlässigt werden und keine Gewalt erfahren. Sicher, gesunde Kinder werden schnell selbständig und brauchen nicht ein Leben lang die elterliche Aufsicht. Aber Vernachlässigung im Kindesalter werden bei ihnen genauso ihre Spuren hinterlassen und sie im Leben aus ganz anderen Gründen behindern.

Egal ob behindert oder nicht: wenn es Kindern bei ihren Eltern gut geht, liegt das an den Rahmenbedingungen. Fehlen psychische, körperliche, emotionale Stabilität oder Gesundheit, häuslicher Friede und Harmonie, finanzielle Sicherheiten u. ä. stützende  Strukturen des Lebens, kann das Kindeswohl in Gefahr geraten. Wir sind dankbar, dass wir Milly diese Rahmenbedingungen bieten können. Aber das ist keine besondere Leistung von uns, sondern einfach nur Glück. Sobald uns dieses Glück verlässt, wirken sich die neuen Umstände auch auf Milly aus.

Und so wie dieser Satz Markus und mich aufwertet, wertet er Milly ab und reduziert sie auf ihre Defizite, ihre Behinderungen. Seit ihrer Geburt wird sie nur vermessen, begutachtet und untersucht. Das ganze Kind ein Fehler, eine einzige Baustelle!? Und da kann sie sich richtig glücklich schätzen, dass es Eltern gibt, die sich ihrer auch noch annehmen. Es tut aber allen Eltern weh, wenn ihr Kind aus welchen Gründen auch immer als Mensch herabgesetzt, entwertet wird. Und genau das vermittelt mir dieser Satz, er ist kein Kompliment.

Und irgendwie sagen mir solche Sätze auch: Zum Glück hat es euch getroffen und nicht uns. Ein Kind wie Milly würde unsere Lebensplanung sprengen. Es gab schon Mütter, die mir direkt sagten, dass sie ihr Kind abgetrieben hätten, wenn es behindert gewesen wäre. Das kann jeder gerne denken, sollte so eine Aussage ungefragt aber für sich behalten. Mir zeigt es, was sie wirklich von meinem Kind halten.

Der Rolle der Väter kommt, wenn es um schwerbehinderte Kinder geht, anscheinend eine besondere Bedeutung zu. Als sich eine Mutter in der BPAN-Facebookgruppe über ihren ignoranten Mann ärgerte, der die Situation um das Kind nicht wahrhaben will, gab es verstörende Antworten. Nicht wenige Mütter schrieben, sie solle doch froh sein, dass er noch bei ihr ist und sie und das Kind nicht verlassen hat. Auch ich musste mir schon sagen lassen, was Markus doch für ein toller Mann ist, weil er ja noch bei mir und Milly ist. Als es mir in den ersten Jahren der Ungewissheit richtig schlecht ging, versetzten mich diese Aussagen in blanke Panik. Ich nahm in dieser schweren Zeit sehr viel an Gewicht zu und musste mir durch die Blume wohlgemeinte Ratschläge geben lassen, dass ich besser abnehmen soll, um meinen Mann zu halten. Ich überlegte verzweifelt was ich nur tun soll, wenn Markus mich verlässt. Es gab nie auch nur den geringsten Grund zu dieser Sorge. Ich war damals aber so dünnhäutig, schwach und in einer emotionalen Ausnahmesituation, sodass ich nur noch Horrorszenarien vor meinem geistigen Auge erblickte. Auf solche übergriffigen und unangemessenen Aussagen darf man gerne verzichten. Was für ein schräges Männer- und Frauenbild liegt solchen Aussagen auch zugrunde? Jahre später, als ich bei der Niederschrift von Millys Geschichte diese Erlebnisse Revue passieren ließ, fiel mir auf, dass auch in diesem Fall das verquere Selbstbild der Anderen mit der eigenen Weiblichkeit dem Partner nicht mehr zu genügen auf mich übertragen wurde. Übrigens hat noch niemand zu Markus gesagt, dass er froh sein kann, dass ich noch bei ihm und Milly bin. Komisch, nicht!?

Ein Kind mit einer oder mehreren schweren Behinderungen zu haben, kann eine besondere Situation sein, muss es aber nicht. Ich will das nicht herabspielen und natürlich gibt es Elternteile, die sich ihrer Verantwortung entziehen. Das gibt es – und die Jugendämter können sicher ein Lied davon singen – aber nicht nur wenn beim Kind eine Schwerbehinderung vorliegt. Auch lese ich oft, dass die Ehe mit einem schwerbehinderten Kind gefährdet ist. Ich spare mir hier, die hohen Scheidungsraten in Deutschland wiederzugeben. Wir sind uns sicher alle einig, dass die überwiegende Mehrheit der geschiedenen Paare in Deutschland keine schwerbehinderten Kinder hat. Eine Ehe kann trotz oder wegen behinderter oder nicht behinderter Kinder oder aus ganz anderen Gründen scheitern.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass in unserer ach so perfekten Welt die Verantwortung auf der Strecke bleibt. Man kann sich sein Kind schließlich nicht backen. Wenn sich reife und erwachsene Menschen für ein Kind entscheiden, sollte ihnen bewusst sein, dass das Leben Wege gehen und Wendungen nehmen kann, die man nicht geplant hat. Wer das nicht akzeptiert und nicht Willens oder in der Lage ist unvorhergesehene Vorkommnisse in sein Leben zu integrieren, sollte auch nicht die Verantwortung für ein Kind übernehmen.

Verantwortung übernehmen bedeutet natürlich auch, eine Lösung zu finden, wenn man sich wirklich nicht in der Lage sieht für ein Kind zu sorgen. Für uns heißt das, uns schon jetzt darum zu kümmern, dass Milly die Fähigkeit entwickelt, zu anderen Personen eine Beziehung aufzubauen. Sie soll in die Lage versetzt werden anderen zu vertrauen, wenn Mama und/oder Papa sie nicht mehr oder nur noch teilweise pflegen und betreuen können. Dieser Abkopplungsprozess ist bei pflegenden Eltern gar nicht leicht. Aber auch mehrfach schwerbehinderte Kinder werden Teenies und Erwachsene. Sie haben ein Recht darauf im Rahmen ihrer Möglichkeiten in die Selbständigkeit entlassen zu werden und nicht ewig an die Eltern gebunden zu sein. Das reduziert den Druck auf beiden Seiten, da es die Abhängigkeit voneinander zu lösen hilft. Milly wird nach der Schulzeit also genauso ihr Elternhaus verlassen und ihre Erfahrungen machen, wie gesunde Kinder auch. Darin sind Markus und ich uns einig. Aber auch wenn sie einmal in einer betreuten Wohngruppe oder einer ähnlichen Einrichtung für junge schwerbehinderte Menschen leben wird, werden wir immer für sie da sein, was auf Eltern nicht behinderter Kinder aber auch zutreffen sollte. Dass Erziehung und Elternsein leicht ist, sagt ja auch bei gesunden Kindern niemand.

Wir pflegenden Eltern müssen selber Vertrauen in die Fähigkeiten unserer Kinder und andere Bezugspersonen entwickeln und akzeptieren, dass es auch mal ohne uns geht und das Kind sich dennoch wohl fühlt. Es ist gar nicht so einfach, die Pflege z. B. während der Hospizaufenthalte abzugeben. Aber es ist ein Lernfeld und es ist wichtig für uns als Familie, uns dort hineinzubegeben. Sich ans Kind zu klammern ist langfristig gesehen kontraproduktiv.

Wie schafft man das also nun mit einem behinderten Kind? Indem man es macht. Irgendwie.