Barrieren im Kopf
Was ist voll daneben!?
Es gibt Redensarten und Kürzel, die ich gerne noch ansprechen und zur Diskussion stellen möchte. Sie werden so selbstverständlich und so selbstverständlich gedankenlos in den Mund genommen, obwohl sie ganz offensichtlich stigmatisieren, wenn nicht sogar diskriminieren.
Sehr beliebt ist z. B.: Er/sie ist eine Laune der Natur. Warum wird diese Formulierung vor allem in Verbindung mit Mehrfachbehinderungen verwendet? Sind wir nicht alle eine Laune der Natur? Jeder Mensch auf diesem Erdball ist einzigartig. Nur darauf zielt die Verwendung dieser Redensart gar nicht ab. Sie entwertet ganz bewusst und hat für mich diskriminierenden Charakter. Meine Milly ist jedenfalls ´ne süße Zuckerschnecke und keine Laune der Natur. Ja, sie hat einen seltenen Gendefekt, der zu einer seltenen Erkrankung führt. In diesem Fall wäre, wenn überhaupt, der Gendefekt die Laune der Natur. Aber auch das ist Blödsinn, da jeder Mensch hunderte Gendefekte hat. Nur nicht jeder Gendefekt führt (sofort oder jemals) zu Erkrankungen/Behinderungen. Ein Mensch aber kann keine Laune der Natur sein. Das klingt so, wie wenn die Natur gerade keine Lust gehabt hätte, aus diesem Menschen etwas Wertvolles entstehen zu lassen. Ich bin sicher, dass sich niemand gerne so bezeichnen lassen möchte. Dann sollten wir es auch mehrfach schwerbehinderten Menschen und deren Angehörige ersparen.
Wie nichtbehinderte Menschen sich behinderte Menschen vorstellen, hat natürlich viel damit zu tun, dass die meisten Menschen ohne Behinderung nur wenig mit behinderten Menschen in Kontakt kommen. Verhaltensauffälligkeiten oder fehlende Fähigkeiten werden dadurch falsch oder einseitig interpretiert. Nur so kann ich mir folgende Phrase erklären: Er/sie lebt in seiner/ihrer eigenen Welt. Das ist oft noch nicht einmal böse gemeint. Aber die Vorstellung, auf die dieser Satz beruht, grenzt vor allem geistig behinderte Menschen aus. Die leben in ihrer Welt und wir in der unseren?! Ich weiß nicht in welcher Welt andere Leute leben, aber Milly lebt hier bei mir, und zwar in meiner Welt. Hier schwingen sicher oft Vorurteile gepaart mit einer großen Portion Unverständnis und Naivität mit.
Denn es erscheint uns nur so, als würden geistig schwerbehinderte Menschen in ihrer eigenen Welt leben. Das kommt daher, dass ihnen häufig die kommunikativen Fähigkeiten fehlen oder sie Beeinträchtigungen bei der Sinneswahrnehmung haben. Das Gegenteil kann aber der Fall sein. Gerade weil sie zu viel an Reizen aus „unserer“ Welt aufnehmen, sie aber behinderungsbedingt nicht verarbeiten können, schotten sie sich ab. Oder sie sind nicht in der Lage ihre Gedanken, Bedürfnisse, Gefühle mitzuteilen. Manch einem schwerbehinderten Menschen ist es auch nicht möglich, sich durch Mimik und Gestik auszudrücken. Wir interpretieren das als fehlendes Verständnis oder Teilnahmslosigkeit an unserem Leben. D.h. aber nicht, dass er/sie nicht an unserem Leben teilhat. Wenn ich Milly kitzle, streichle, mit ihr Quatsch mache, wenn sie radelt, wir spazieren gehen, sie mit Spielzeug spielt, wir Besuch bekommen u.s w., dann hat sie Spaß und Freude daran. Genauso kann sie sich über Dinge erschrecken und als Folge weinen. Hier gibt es eine Außenwirkung, die auf sie einwirkt und auf die sie reagiert. Wie kann man nur auf den Gedanken kommen, dass sie in ihrer eigenen Welt lebt? Sie lebt wie jedes gesunde Kind in “unserer” Welt. Selbst bei Kindern bzw. erwachsenen schwerbehinderten Menschen, die noch viel eingeschränkter sind und sich noch weniger mitteilen können, bin ich sicher, dass sie hier bei uns sind, auch wenn sie es uns nicht zeigen können. Es ist an uns, sie zu respektieren und ihnen nicht ihre „mentale Anwesenheit“ abzusprechen. Auch Milly hat Phasen, in denen sie mal ganz woanders zu sein scheint. Das hat mit ihrer Epilepsie zu tun. D.h. aber nicht, dass sie in diesen Momenten nicht geistig präsent ist. Sie ist dann nur noch eingeschränkter als sonst. Was genau sie noch wahrnimmt und mitbekommt, wissen wir nicht. Und genau deshalb verbietet es sich auch, sie in einer Welt anzusiedeln, die es überhaupt nicht gibt. Das grenzt sie völlig unnötig aus.
Was mir auch oft aufgefallen ist: Schickte ich der Familie Bilder von Milly, kam häufig als Rückmeldung: Sie sieht ja so glücklich aus. Sie ist ja so fröhlich. Nein, wie sehr sie doch lacht. Ja, und? Warum denn nicht? Milly bekommt Besuch, wird betuddelt, hat was Tolles zum Spielen entdeckt, die Sonne lacht, der Tag ist super … Warum soll sie denn da nicht fröhlich sein und lachen? Glück in Verbindung mit Krankheit und Behinderung scheint nicht vereinbar zu sein. Das ist schade, denn natürlich können behinderte und sogar schwerbehinderte oder schwerkranke Kinder/Erwachsene auch glücklich sein. Sicher nicht jede Minute ihres Lebens, aber das trifft ja auch auf alle nicht behinderten/gesunden Menschen zu, oder?
Wundern muss ich mich auch über Aussagen wie: Das scheint er/sie ja zu fühlen bzw. mitzubekommen. In der Familie wurde einmal der Fall von Eltern eines geistig behinderten Sohnes diskutiert. Dieser wurde in der Schule sexuell missbraucht. Es wurde ernsthaft und ganz mitfühlend gemeint: Hoffentlich hat er das nicht mitbekommen. Wie bitte? Warum soll es ein geistig behindertes Kind nicht mitbekommen/ nicht fühlen, wenn man ihm Gewalt antut? Die ethischen und strafrechtlichen Belange sind ja auch keinem gesunden Kind bewusst. Wie können wir uns anmaßen zu wissen, ob oder was ein behinderter Mensch fühlt oder denkt, was er weiß oder wahrnimmt?
Zuhause hatten wir schon die eine oder andere Diskussion, ob man bei Tisch ins Smartphone schauen und lesen sollte. Ich gebe zu, dass ich das hin und wieder auch gemacht habe – und Milly saß daneben. Nun werden Sie einwenden, dass das auch viele Eltern von gesunden Kindern machen. Nur das macht die Sache leider nicht besser. Es ist und bleibt eine Respektlosigkeit gegenüber dem Kind. Nonverbale Kinder haben es zusätzlich schwer, die ihnen gebührende Aufmerksamkeit einzufordern. Gerade weil es keine Resonanz gibt, schalten wir Eltern ganz leicht mal ab. Vielleicht ist es Milly wirklich egal, was ich am Tisch so mache. Aber ich kann doch nicht davon ausgehen, dass sie nichts mitbekommt, nur weil es danach aussieht bzw. sie nicht sprechen kann. In jedem Fall findet sie es ganz toll, wenn ich sie beachte und ihr vorsinge, während ich ihr z. B. zu essen gebe. Ich muss mir immer wieder ins Bewusstsein rufen, dass ich meiner Tochter nicht gerecht werde, wenn ich sie in meiner Gegenwart unbeachtet lasse. Vielleicht sollten wir einmal eine ganz andere Perspektive in Betracht ziehen. Wahrscheinlich ist es nämlich sogar Milly die denkt: Schade, Mama lebt jetzt wieder in ihrer eigenen Welt und ist nicht bei mir, weil sie nichts mitbekommt. Nur mal so als These.
Es gibt mehrfach schwerbehinderte Kinder bzw. Erwachsene, die sich krankheits- und/oder behinderungsbedingt entweder gar nicht oder nur miß- bzw. unverständlich äußern können. Es ist vermessen ihnen aus diesem Grund zu unterstellen, dass sie nicht so fühlen wie gesunde Menschen, nichts mitbekommen, nichts begreifen. Das Gegenteil ist der Fall: Wir sind es, die zu dumm sind, sie zu verstehen! Mit all unserer Intelligenz und all unseren Fähigkeiten ist es uns nicht möglich, einen Zugang zu ihnen zu finden und uns einen Weg der Kommunikation zu ebnen.
Die oben erwähnten Vorurteile leisten uns zusätzlich einen Bärendienst. Denn wenn wir mit diesen überflüssigen Redensarten unserer Umwelt signalisieren, dass „die da“ ohnehin nichts verstehen, empfinden und obendrein noch ganz woanders sind, werden wir nie in die Kontakte kommen. Es gibt Pferdeflüsterer, Hundeflüsterer, es wird mit Toten kommuniziert, die Außerirdischen nicht zu vergessen. Aber ein Verständnis für unsere Mitmenschen zu entwickeln, um sie – mit all ihren Einschränkungen – an unser aller Leben teilhaben zu lassen, ist nicht möglich. Es ist bequemer zu unterstellen, dass sie ja ohnehin nichts verstehen oder nicht „da sind“ als in die Auseinandersetzung zu gehen. Auch wenn es anstrengend, gar unangenehm und eine Herausforderung sein kann.